"Der blaue Stuhl"

Handlungsrahmen

 

Das Projekt „Der blaue Stuhl“ greift unten formulierte Idee und den Hintergrund als kreatives Spiel auf und versucht es als künstlerische Position öffentlich zu diskutieren. Der blaue Stuhl wird im Mai/Juni immer wieder an verschiedenen Orten auftauchen und auf Reaktion warten. Und da kann es natürlich passieren, dass plötzlich jemand auf dem blauen Stuhl sitzt, der zufällig vor einem Haus, einer Garage oder in einem Vorgarten steht. Und auch das kann ja schon Kunst  sein, oder? Er könnte auch auf einem Feld zwischen Kühen stehen  oder an einem Baum hängen. Mit kleinen Schwimmflügelchen könnte man ihn auch kurz in der Nordsee schwimmen lassen. Er sollte allerdings hinterher wieder gut abgetrocknet werden, obwohl der kreative Veränderungsprozess Teil des Konzeptes ist. Man kann ihn auch im Bus mitnehmen, um ihn in ein anderes Dorf zu bringen. Möglichkeiten, diese blauen Stuhl immer wieder neu in Szene zu setzen, gibt es sicherlich viele. Und die Teilnehmer, die liebevoll mit dem Stuhl umgehen und ihn immer wieder neu positionieren, sollten dabei nicht vergessen, ihn und seinen Standort aus verschiedenen Perspektiven immer wieder zu fotografieren und in den sozialen Medien wie FB, Instagram oder TiktTok etc. hochzuladen. #blauerstuhl Ich werde den blauen Stuhl auch nutzen, um ihn immer wieder neu zu positionieren. Dieses Spiel hat nämlich etwas mit Wahrnehmung, mit Ästhetik, mit Form und Funktion im privaten und öffentlichen Raum zu tun. Diese kreativen Arrangements werde ich dann aperiodisch hier auf der Homepage veröffentlichen. Und vielleicht - bei ein wenig Glück - taucht hier und da,  auf der Insel Föhr wie auf dem Festland, ein neuer blauer Stuhl auf, der vor Ort die Idee aufgreift, weiterspielt und dabei immer wieder für Irritation und Heiterkeit sorgt. Ob dabei die Frage endgültig beantwortet werden kann, ob es sich hierbei um Kunst handelt, überlasse ich den kompetenten Fachleuten!

 

Ich freue mich jedenfalls auf die Aktionen und Reaktionen ab Frühjahr/Sommer 2024!

 

Idee &Hintergrund

 

Sitzgelegenheiten aller Art haben bildende Künstler in den letzten Jahrhunderten immer wieder fasziniert. Angefangen hat man mit Skulpturen und Plastiken von Göttern Pharaonen und Kaisern sowie Königen, die man auf dem Thron darstellte. Ziel war es, seinen ›Besitzer‹, egal ob es ein prunkvoll ausladender auffallender Lehnstuhl oder ein gemütlicher Ohrensessel war, in seinem Ansehen und seiner Reputation zu höhen. Ob Thron, Bischofssitz oder Richterstuhl – lange Zeit galt deshalb: Wer auf einem Stuhl sitzt, genießt stets die Würde eines hohen Amtes. Die ältesten bekannten Stühle waren sehr niedrig, hatten gebogene Rückenlehnen und häufig Beine in geschnitzter Tiergestalt. Die Herrschenden thronten im wörtlichen Sinn über den einfachen Leuten, die oftmals nur auf dem Boden kauerten.

 

Nur aus Bequemlichkeit saß zunächst niemand auf einem Stuhl, die Menschen lagen wie die Römer lieber zwanglos herum. In Europa blieb ein Stuhl oder Sessel jahrhundertelang ein exklusives Möbelstück, das sich nur Menschen aus dem Stand des Adels oder des Klerus leisten konnten. Erst im 16. Jahrhundert setzte sich der Stuhl in weiten Kreisen der Bevölkerung durch und gehörte dann zum gängigen Mobiliar. Es handelte sich dabei zwar um einfache Sitzgelegenheiten, die alltäglich, abgenutzt und beschädigt waren. Viele Kunstwerke jener Zeit, auf denen der Stuhl ein hervorstechendes Motiv ist, sagten etwas über die soziale Stellung, das Lebensgefühl oder die Haltung des Benutzers aus.  Später in der Neuzeit erhielt der Stuhl in Gemälden und später auch in Fotografien die Bedeutung für eine abwesende Person, der leere Stuhl von jemand Bedeutendem. Der umgeworfene Stuhl verwies dabei auch auf Konfliktsituationen („Jemandem den Stuhl vor die Tür stellen!), der idyllische Gartenstuhl mit Blumen dekoriert, wirkt ähnlich einem Lehnstuhl, auf dem eine schlafende Katze liegt, für Heimat, Geborgenheit, Ruhe und Ausgeglichenheit.

 

Der Stuhl ist also aufgeladen, bewertet, besetzt und wird in Zusammenhang mit menschlichen Bedürfnissen gebracht. Die Idee „Der blaue Stuhl“ soll hier im Sinne künstlerischen Handelns und Bewertens anknüpfen und seine Einwohner und Besucher in ein kreatives Spiel verwickeln und dabei den Stuhl in immer wieder neuen Blickwinkeln wahrnehmen. U.a. seine kunsthistorischen und kunsttheoretischen Bezüge zu Marcel Duchamp (Objet trouvé), Yves Klein (Farbe IKB) und Christo (Verhüllung) Ohne allerdings darauf zu verzichten, seinen ursprünglichen Funktionszweck, das Sitzen, nicht zu vernachlässigen. Hinsichtlich der Ästhetik kann man ein Jahr und einen Namen in den Fokus nehmen. 1830 und den Namen Michael Thonet. Als Tischlermeister verhalf er mittels Holzbiegetechnik  einem Stuhl zur industriellen Möbelfertigung, der schließlich zur Ikonisierung der Form als Synonym  des erfolgreichsten Modells eines Kaffeehaus- und Bistrostuhls europäischer Großstädte beitrug.

 

Schlicht, zerlegbar und erschwinglich. Diese öffentliche Aufmerksamkeit erreichte auch das Bauhaus und Walter Gropius ab 1919 und führte Kunst und Handwerk zu einer neuen Formensymbiose, in der der Stuhl eine neue Rolle in der bildenden Kunst spielte. Ob als Thonets gebogenem Stahlrohrstuhl von Stam und Breuer, dessen Bildwahrnehmung folgend mit Rietvelds rotblauem Stuhl ergänzend mit Kandinskys Arbeiten korrespondieren und schließlich an Konstantin Grcic´ “Chair One“ erinnert. Oder der Stuhl wird zum Grundstein und zur Begierde der Konzeptkunst mit Beginn der 1960er Jahre.  So setzte sich 1965 Joseph Kosuth, der das Sitz­mö­bel zum Gegen­stand eines der zentrals­ten Werke der Konzept­kunst machte, mit seiner Gegen­ständ­lich­keit ausein­an­der. Bei „One and Three Chairs“ sehen die Betrach­ter einen tatsäch­li­chen Stuhl, eine lebens­große Foto­gra­fie eines Stuhls an der Wand und den Werknamen Stuhl als inhaltliche Beschreibung. 1970 komprimierte Stefan Wewerka ergänzend die kreative und virulente Aufbruchsstimmung der 60er-Jahre in eine Stuhlidee. Der leuchtend-roter „Classroom-Chair“ ermöglichte neues Sitzen und Sehen in einem.

 

Das Verhält­nis von Origi­nal und Abbild sowie die Bezie­hung zwischen Kunst und Spra­che war und ist in diesem Zusammenhang immer Teil der visuellen Auseinandersetzung. Die Verbindung von Bild und Text reicht dabei eigentlich schon bis in die Anfänge der Verschriftlichung der Sprache zurück. Kunststile wie Dadaismus, Surrealismus, Kubismus, Konstruktivismus, Konzeptkunst und Bewegungen wie das Bauhaus und Art & Language thematisierten schließlich auch schon das Verhältnis zwischen Bild und Text.

 

Richtungsweisend für die Beschäftigung mit diesem Verhältnis waren allerdings auch die Sprach-Bilder des belgischen surrealistischen Künstlers René Magritte. Magritte beeinflusste in dieser Hinsicht viele Künstler. Auch Yoko Ono verlieh Alltags­ge­gen­stän­den eine neue Bedeu­tung, als sie sagte: „Artists must not create more objects, the world is full of ever­y­thing it needs.” In ihrem „Chair Pain­ting“ (1966-71) verschmilzt die Kunst in Form des golde­nen Rahmens mit dem Alltag, der durch einen Stuhl symbo­li­siert wird. Sie zeigte als Fluxus-Künstlerin, dass sich ein Kunst­werk nicht nur über die ihm voran­ge­gan­gene Arbeit, dessen Medien oder Mate­ria­lien defi­niert, sondern vor allem über die ihm zugrun­de­lie­gen­den Fragen,  Ideen und Funktionsbeschreibungen, die beim Betrach­ten auslöst werden.

 

 

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© Andreas Petzold #KUNSTEINS 2024